Verantwortung | | Nr. 171/23
TOP 17: Nur wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, kann die Zukunft gestalten
Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Frau Präsidentin,
Sehr geehrte Damen und Herren
In dieser Woche jährte sich das Ende des 2. Weltkrieges am 08. Mai 1945 zum 78. Mal.
Richard von Weizsäcker bezeichnete diesen Tag in seiner bedeuteten Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 08.05.1985, als einen Tag der Befreiung, auch für uns Deutsche.
Befreiung von einem diktatorischen, menschenverachtenden System, das alle Lebensbereiche der Gesellschaft kontrollierte.
Das jedoch auch, bis auf wenige Ausnahmen, von fast allen Teilen der Gesellschaft mitgetragen wurde.
Für viele Menschen kam dieser Tag der Befreiung jedoch zu spät: Weltweit starben über 65 Millionen Menschen im Zuge des 2. Weltkrieg. Der Krieg (und die damit verbundenen Verbrechen) war eine historische Zäsur und ein beispielsloser Zivilisationsbruch. Als epochales, grausames Ereignis muss dabei der Holocaust, der Massenmord von Zivilisten, die systematische „Vernichtung“ von Juden, Minderheiten wie den Sinti und Roma, Andersgläubigen wie den Zeugen Jehovas, von politischen Gegnern, von Behinderten und anderen für „minderwertig oder asozialen“ betrachteten Menschen hervorgehoben werden.
Diese Menschen wurden von den Nationalsozialisten entrechtet, erniedrigt, verfolgt, vertrieben, deportiert und ermordet.
Vor der physischen Vernichtung stand jedoch die finanzielle und psychische Vernichtung in Form von immer weiter gängelnden Verboten, der Einschränkung von Rechten, Berufsverboten, Diffamierungen, dem Raub ihrer Existenzgrundlage und ihrer Würde.
Die Nazis gingen dabei sehr systematisch vor und bereicherten sich an dem Eigentum anderer. 1938 wurde z.B. die Judenvermögenssteuer eingeführt. Mitbürger jüdischen Glaubens mussten ihr Vermögen deklarieren, wenn es den Wert von 5.000 Reichsmark überstieg und 20 Prozent davon in (zunächst vier) Raten bis August 1939 an ihr Finanzamt abführen. Über eine Milliarde Reichsmark sollten die Haushaltslöcher der durch die Aufrüstung verschuldeten Reichsregierung stopfen. Weitere „Einnahmen“ generierte man unter anderem durch die „Arisierung jüdischer Unternehmen“.
Anfangs drängten die Nazis viele Menschen in die Emigration, dabei mussten die emigrierenden Bürgerinnen und Bürger die Reichsfluchtsteuer zahlen. Insgesamt nahm das Reich von 1933-1939 941 Millionen Reichsmark ein, denn erst eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ des Finanzamts, mit der die Zahlung der Reichsfluchtsteuer und anderen Steuern bestätigt wurde, war die Voraussetzung zur legalen ständigen Ausreise. Die größtenteils jüdischen Emigranten mussten ihren Besitz, ihre Häuser, ihre Unternehmen, ihre Lebensgrundlagen zu einem Spottpreis verkaufen. Ihnen war lediglich erlaubt, persönliche Gebrauchsgegenstände und minimale Summen mit auszuführen, zudem wurde die Degoabgabe (für Einlagen bei der Deutschen Golddiskontbank) eingeführt. Nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 wurde die „völkische Flurbereinigung“ beschlossen, die „Zigeuner und Juden“ im Fokus hatten. Seit 1934 gab es umzäunte „Zigeunerlager“ in vielen Städten, unter anderem hier in Kiel in der Preetzer Straße. 1936 wurde die Rassenhygienische Forschungsstelle gegründet, die ein „Zigeunersippenschaftarchiv“ aufbaute, viele Institutionen lieferten Informationen.
Die Mai-Deportationen von 1940 unter anderem des Lagers Preetzer Straße galt als Probelauf für die späteren Judendeportationen. Den Sinti und Roma wurden vor der „Umsiedlung gen Osten“ Geld, Wertgegenstände und Papiere genommen.
Die Nationalsozialisten deportierten im großen Stil ab 1941 die von ihnen verfolgten Menschen in Ghettos, Arbeits- und Vernichtungslager und nahmen ihnen all ihr Eigentum. Selbst über die kleinsten Besitztümer, die zurückgelassen werden mussten, wurden detaillierte Listen geführt.
In der Berliner Blindenwerkstatt in den Hackeschen Höfen beschäftigte der Bürstenfabrikant Otto Weidt blinde und gehörlose Juden und versuchte sie so lange wie irgend möglich vor der Deportation zu bewahren, in dem er kriegsrelevante Güter herstellte. Hier befindet sich heute ein Museum, wo man Listen einsehen kann, in denen die Nationalsozialisten den kümmerlichen Besitz der jüdischen Mitarbeiter am Tag ihrer Deportation fein säuberlich festhielten: ein Gebetsteppich, zwei Kochtöpfe etc.
Viele Deutsche waren involviert, alles war durchorganisiert. Die Nationalsozialisten machten die Deutschen zu Mitwissern und -tätern, und zu Profiteuren. Junge BdM-Mädchen protokollierten Listen, Beamten organisierten die Einlagerung und zogen Vermögen ein, Bürger konnten z.B. Möbel und Teppiche, aus dem Besitz von Juden erwerben, wenn sie z.B. ausgebombt waren. So gab es beispielsweise große Lager am Hamburger Hafen. Die Großmutter eines Freundes von mir bat ihn eines Tages eine Kommode von ihr wegzugeben: „Ich kann dieses „Judenschränkchen“ nicht mehr sehen, es erinnert mich täglich an meine Schuld.“
Auch bei uns in Schleswig-Holstein wurden jüdische Bürger und Sinti und Roma systematisch enteignet und ihrer Vermögen geraubt, maßgeblich beteiligt waren stets die Finanzbehörden.
Ein Beispiel: Julius Freund war ein erfolgreicher Kaufmann und Kunsthändler aus Berlin und besaß mehrere Immobilien in Flensburg. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde er von der Gestapo verhaftet und in das KZ Sachsenhausen deportiert. Sein Vermögen und seine Immobilien wurden von den Nationalsozialisten beschlagnahmt und an nicht-jüdische Käufer verkauft. Nach dem Krieg versuchte Freund, sein Eigentum zurückzufordern, erfolglos, auch die Einnahmen aus dem Verkauf waren nicht mehr aufzufinden.
Viele Bundesländer haben sich daher auf den Weg gemacht, diesen Teil der Geschichte aufzuarbeiten. Daher begrüße ich sehr die Initiative der FDP und freue mich, dass wir mit diesem überfraktionellen Antrag ein gemeinsames Zeichen setzen.
Viele Deutsche haben nach dem Krieg ihre Rolle heruntergespielt, sie seien nur ein kleines Rad gewesen, hätten nur Befehle und Aufträge ausgeführt. Aber alle diese kleinen Räder hielten die brutale Maschinerie am Laufen.
Als Jugendliche stand ich erschüttert in Ausschwitz vor Bergen von Schuhen, Brillen, Koffern, Kleidung, die „heim ins Reich“ geschickt wurden, besuchte das „Zigeunerlager“ in Birkenau, sah in Buchenwald Lampenschirme aus Menschenhaut gefertigt. Selbst den ermordeten Menschen stahl man noch im Krematorium Goldinlays und Eheringe und schmolz sie ein.
Wir Deutschen haben kollektive Schuld auf uns geladen.
Es ist gerade heute wichtig, zu forschen, sich an die Vergangenheit zu erinnern und immer wieder diese systematischen Verbrechen ins Gedächtnis zu rufen, da auch heute wieder Rassismus, Semitismus, Antiziganismus und Ausgrenzung auf dem Vormarsch sind. In vielen europäischen Parlamenten sitzen Nationalisten. Auch in Deutschland.
Wir Deutschen tragen daher eine besondere Verantwortung.
Mit Erlaubnis der Präsidentin möchte ich die Shoa-Überlebende Tamar Dreifuss zitieren:
„Nur wer sich mit der Vergangenheit auseinandersetzt, kann die Zukunft gestalten.“
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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Max Schmachtenberg
Düsternbrooker Weg 70, Landeshaus, 24105 Kiel